Interview mit Dieter Zwicky 4. Dezember 2001

RB: Was unterscheidet das Unterwegssein zu Fuss von allen anderen Arten der Fortbewegung? 
DZ: Gehe ich zu Fuss, sickert zumindest noch sekundenweise die Entlastung ins in Sachen Aufnahmekapazität erschöpfte System, dass physischer Stillstand die ideale, die angemessene Art der Fortbewegung wäre.

RB: Warum ist das Leben ein grosses Wunder? 
DZ: Vielleicht ist weniger das Leben, als unser ausgesprochen labiler Blick aufs Leben ein grosses Wunder: Plötzlich wird beispielsweise eine an sich banale, tausendmal eingespielte Menschenkonstellation zur himmelstürzenden Erscheinung, und es ist keinesweg vorentschieden, ob wir damit bereits dem Kitsch verfallen sind. 
RB: Du beschreibst oft wie die Dinge sind, wenn sie aufscheinen: wie sie aussehen, riechen, tönen. Erzähl bitte etwas über deine naturwissenschaftlichen Interessen. 
DZ: Immer mal wieder wäre ich gerne Apotheker, vor allem in sogenannte 
Sinnkrisen. Pillen oder Pasten oder Wässerchen über den Tresen reichen als unaufdringlich bürgerlich gekleideter Mann mit ausgebildeten Tränensäcken im gelbweissen Arbeitskittel, warme Handballen, welche die wissenschaftlich erhärtete sakramentale Tages- oder Monatsdosis bergen. Die Empfindung kurz vor Geschäftsschluss am Tuch der Hosenbeine wäre reine, reine Heimat. 
RB: Indirekte Rede und der Konjunktiv, die zwei Gestirne am betörenden Himmel des Dieter Zwicky. Lässt sich so Realität beschreiben? 
DZ: Du vergisst den Leser, die Leserin. Sie entscheiden über diese bösartige 
Frage. Sind nämlich Leserinohr und 
Leserauge auf Realität aus bzw. auf Realismus schon eingestellt, werden auch konjunktivische Verzögerungen, Verlangsamungen, Dämpfungen und Zusatzschlaufen über die indirekte Rede dankbar als realistisches Attribut entgegengenommen. Die Leserschaft kom-plettiert, vollkommen mündig, ein Schriftstück Richtung Realität. 
RB: Es ist nicht übertrieben festzustellen, dass mit Dieter Zwicky eine so seit Langem nicht mehr gehörte literarische Stimme sich zu Wort meldet. Welches sind deiner Wurzeln? 
DZ: Als Kindergartenschüler sass ich schweissgebadet über den simpelsten 
Puzzles. Plötzlich aber vermochte ich, an der nachbarlichen Hausfassade in Höngg, den Schriftzug ELCO zu lesen. Ich verstand nichts; es gab ja auch nichts zu verstehen. Trotzdem. von da an war ich, auf meine Weise natürlich, fürs Leben gerüstet. ELCO durfte, wie ich empfand, das gelebte Leben lang unverständlich bleiben. Auch ohne Verständnis bleibt man durchaus ein passabler Mensch. Man schwitzt teilweise, während andere nicht schwitzen, nun gut. ELCO aber war wie eine Nebentüre, die plötzlich aufgegangen war, eine Nebenbeschäftigung, die sich aufeinmal anbot. Meine Mutter sagte mir, ich hätte als Kind wenig gespielt. Falsch. Ich habe nie aufgehört, über Worten und Dingen zwecklos, zweckfrei zu brüten. 
RB: Ich nerve dich vielleicht mit meinen Fragen. In der Vernünftelei mit dem Titel «Was ist eine Antwort?» schreibt die Erzählfigur einem Adressaten, der ihn mit Antworten eindeckt: (...) «Was ist eine Frage? Ich freue mich auf Ihr Schweigen.» Wie tönt also Schweigen? 
DZ: Nach Metall. Der aufdringliche Adressat hat, aus Einsicht, Reue, eigen- händig seine Wangenpartie mit den singenden Hieben einer auch eisenhaltigen Peitsche eingedeckt. 
RB: Was würde Dieter Zwicky auf die Insel der Unverbindlichkeiten mitnehmen? 
DZ: «Die Erkenntnis des Schmerzes» von Carlo Emilio Gadda. 
RB: Die Qualität des Humors in «Der Schwan, die Ratte in mir» dürfte neue Massstäbe setzen. Was geschieht, wenn ich mich darauf einlasse? 
DZ: Nichts. Du bleibst bewundernswert flexibel und agil. 
RB: Was ist ein Abgrund? 
DZ: Meine Frau und ich sind auf Wohnungssuche. Vorvorgestern kriegten wir seit langem wieder einmal ein Angebot. Standort des möglichen neuen Domizils? Schräg gegenüber dem Gebäude, worauf vor 33 Jahren ELCO stand. 
Dort hätte ich also in jeder leeren Minute in einer Art Diagonalblick auf meine Kindheit und auf die Literatur zu starren. Ein Abgrund. Alles würde wieder strikt wörtlich, zum Ersticken genügsam, ohne metaphysische Durchreiche. 
RB: Wo wachsen die schönsten Tannen? 
DZ: In einem noch unpublizierten kurzen Textkonglomerat mit dem Titel «Der gelbe Palazzo». Allerdings sollte man sich selbige Tannen laut vorlesen. 
RB: Mit wem würdest gu gerne mal durchs Obergoms spazieren? 
DZ: Auch das Obergoms liegt nicht im Wallis, es gehört welschwärts geschoben. 
RB: Und zum Schluss dein schönster Traum? 
DZ: (Bloss ein Ausschnitt) Eben habe ich einen älteren Mann mit einem extraflachen Aschenbecher aus Leichtmetall und einem äusserst handlichen 
Kerzenständer beworfen, möglicherweise tödlich verletzt. Ich wechsle ins 
Parterre, wo mich der Sohn (meine Überzeugung) des Maltraitierten fragt: 
Wo ist Vater? In der Garage, antworte ich. Beim Wort Garage enpfinde ich überragende Genugtuung, als sei durch die jetzige Anwendung dieses Wortes ein Versprechen endlich eingelöst. Wohlige Schauer darüber, wie Persönliches offensichtlich immer etwas konkreter wird. 
R.B. Danke Dieter Zwicky.

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