Luckas Hunziker über Roland Reichens «Aufgrochsen»

In seinem Erstlingswerk «Aufgrochsen» erzählt der Berner Oberländer Roland Reichen die Geschichte einer alles andere als schrecklich netten Familie. Der Roman überzeugt durch seinen provokativen Humor und die ungewöhnliche, originelle Sprache. Ein gelungener Start in die Schweizer Literatur. 

«Aufgrochsen» beginnt mit dem Versäumnis der Mutter des Protagonisten, dessen Hirnhautentzündung behandeln zu lassen. Zwar schleppt sie den Buben zum Arzt, als dieser aber einem Proletenkind den Vortritt gibt, kehrt sie schnurstracks um und lässt den Buben zu Hause selbst gesunden. Gesund wird er, aber auch dumm, denn die Hirnhautentzündung konnte ungehindert schalten und walten. Aus dem Buben - der nie bei einem anderen Namen genannt wird - wird ein Soziopath, der Ohrfeigen einer Moralpredigt stets vorzieht. 
Kotzen als Prügelprävention 
Um sich nicht selbst um ihren schwierigen Sohn kümmern zu müssen, besorgt das Mueti ihm eine passende Braut, das Friedli. Dieses aufopferungsvolle und gottesfürchtige Mädchen ist eigentlich das genaue Gegenteil des groben und inzwischen reichlich fetten Buben, aber um sich gegen eine Hochzeit zu stellen ist es viel zu schüchtern. So heiraten der Bub und das Friedli und verbringen eine von Anfang an unheilvolle Ehe zusammen. Das erste Kind wird Opfer der Wutausbrüche des Buben, der kaum etwas lieber tut, als den kleinen Fibi nach Kräften zu prügeln, bis dieser merkt, dass Kotzen eine effektive Massnahme gegen die väterlichen Schläge ist. Ausserdem ist schon das zweite Kind, der Phant, unterwegs, so dass sich die häusliche Gewalt etwas verteilt. 
Helvetisches Hochdeutsch 
Nein, leichte Kost ist es nicht, was der Leser in «Aufgrochsen» serviert bekommt. Oder doch? Der Roman bewegt sich durchgehend auf einem schmalen Grat zwischen Tragik und Komik. Komisch ist vor allem die Sprache, mit welcher die Familiengeschichte erzählt wird. Roland Reichen vermischt Schriftdeutsch mit Dialektwörtern und dialektaler Grammatik. So entstehen Sätze wie «Wenigstens hockt da noch sein zweiter Bub, wo mittlerweile auch schon seit gut vier Jahren regelmässig den Baustellenstaub an den Pfoten vom Buben zu schmecken bekommt». Dies mag auf der ersten Seite noch befremdlich sein, bald jedoch schätzt man es als originellen und äusserst amüsanten Erzählstil. 
Dorfatmosphäre 
Aber nicht nur die Sprache, auch die Geschichte ist durchaus lustig, abgesehen von der väterlichen Terrorherrschaft des Buben. Besonders Schweizer Leser, die ihre Jugend in einem Dorf verbracht haben, werden die beissende Satire über das Dorfleben zu schätzen wissen; die Anekdoten über Töfflis, die ländlichen Flüche, das typische Essen. In dieser Beziehung ist «Aufgrochsen» Schweizer Literatur pur, auch wenn sich der Roman kaum mit anderen Heimatgeschichten vergleichen lässt. Sprachlich innovativ, durchzogen von bitterböser Komik und immer spielerisch erzählt er eine Familiengeschichte, die weder wirklich Komödie, noch Tragödie ist. 
«Aufgrochsen» ist ein sehr lebendiger, amüsanter aber durchaus nicht unernster Roman über eine ungewöhnliche und unheimliche Familie, deren Mitglieder unter gesellschaftlichen Zwängen leiden, ausgenutzt werden, und dennoch seltsam unsympathisch sind. Wunderbare Satire, bitterböser Humor und sprachliche Innovation könnten dem Buch Kultstatus bringen.

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Roland Reichen

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