Eine Mischung aus Seufzen, Fluchen und Spucken

Eine Mischung aus Seufzen, Fluchen und Spucken

Roland Reichen im Gespräch mit dem Netzmagazin.
Von Lukas Hunziker. 

Roland Reichen hat soeben seinen ersten Roman, «Aufgrochsen», veröffentlicht, ein sprachspielerisches und satirisches Portrait einer «kaputten» Dorfschweizer-Familie. Wir trafen den frischgebackenen Autoren zum Gespräch über sein Buch und über den Weg zu dessen Veröffentlichung.

Das Netzmagazin: Wie ist das, wenn man seinen eigenen Roman in den Händen hält? Du hast ja schon mal zwei Kurzgeschichten in einer Anthologie veröffentlicht, aber ich nehme an, das eigene Buch in den Händen zu halten, ist doch nochmals etwas anderes. 

Roland Reichen: Ja, das ist schon ein tolles Gefühl, besonders, weil es eher überraschend kam. Ich habe das Manuskript vor mittlerweile gut drei Jahren an etwa fünfzehn verschiedene Verlage geschickt. Leider kamen die längste Zeit nur Standardabsagen, und so dachte ich schon, dass es wohl nichts werde mit der Literatur, und begann ein Doktorandenstudium in Literaturwissenschaft. Völlig überraschend fragte mich dann im letzten Sommer plötzlich Ricco Bilger vom Bilgerverlag, ob ich denn schon einen Verlag für das Manuskript hätte. 

Hast du es vor allem bei Schweizer Verlagen versucht oder auch bei grossen deutschen Verlagen? 

Ich habe es schon auch bei ein paar grossen deutschen Verlagen versucht, bei Suhrkamp zum Beispiel. Aber die schickten dann so eine Standardantwort - «Sie passen leider nicht in unser Programm», so in der Art. Da ich ein begeisterter Leser österreichischer Gegenwartsliteratur bin und man dies meinem Text sicher auch anmerkt, habe ich es auch bei einigen Verlagen in Österreich versucht, in der Hoffnung, meine Chancen könnten dort vielleicht grösser sein. Und tatsächlich zeigte der Grazer Droschl-Verlag denn auch ein gewisses Interesse. Auf seine Vermittlung hin gab es einen Teilabdruck des Manuskripts in einer Literaturzeitschrift, und ich wurde zu Lesungen nach Graz und Wien eingeladen. Da der Droschl-Verlag aber nur sehr wenige Bücher herausbringt, wollte man lieber etwas mit österreichischem statt schweizerischem Dialekteinschlag. Man riet mir, es bei einem Schweizer Verlag zu versuchen, was ja jetzt geklappt hat. Meine Erfahrungen mit dem Bilgerverlag sind auch wirklich gut, es herrscht eine sehr familiäre Atmosphäre, und ich bin sehr zufrieden. 

Was passiert denn alles zwischen dem Annehmen des Verlages und der Veröffentlichung des Buches? 

Es passiert schon noch einiges. Ricco Bilger hat als Verleger einen großen Stapel mit zahlreichen Manuskripten herumliegen, die irgendwann vielleicht in Frage kommen. Verständlich, dass er die nicht mal schnell alle lesen kann; bei mir hat es wie gesagt etwa zwei Jahre gedauert. Wir haben uns im Sommer getroffen, und wir fanden beide, dass wir zusammen das Buch machen wollen, das heisst, er und ich und die Lektorin, Ulrike Frank. Zuerst hatte ich den Eindruck, Ulrike wolle mir nur dreinreden, aber im Nachhinein muss ich sagen, dass sich dank ihrer Mitarbeit am Manuskript doch noch einiges in sehr guter Weise verändert hat. Ulrike und ich haben uns während vier Monaten immer wieder getroffen, und ich habe nach den Treffen die entsprechenden Bearbeitungen gemacht. Das konnten Kleinigkeiten wie Satzzeichen sein, aber auch ganze Kapitel, die umgeschrieben wurden. Vor allem die Chronologie hat sich geändert, und einige Stellen, die eher langweilig waren, wurden gestrichen. Als die Lektoratsphase vorbei war, musste nur noch der Umschlag gemacht werden. 

Dem Klischee zufolge sind Erstlingswerke junger Autoren häufig stark autobiographisch geprägt oder an literarische Vorbilder angelehnt. Wie ist das bei dir? 

Ich habe keine literarischen Vorbilder in dem Sinn, dass ich einen bestimmten Stil kopieren möchte, lasse mich aber gern und von vielerlei Spracherzeugnissen anregen und beeinflussen. Was die Literatur angeht, wären hier sicher österreichische Autorinnen und Autoren wie Werner Schwab, Elfriede Jelinek oder Peter Rosei zu nennen. Auch Beckett gehört zu meinen Lieblingsautoren. Wenn man «Aufgrochsen» liest, merkt man sicher, dass da eine gewisse 
Verwandtschaft besteht. Andererseits hat der Roman aber auch biographische Züge. Ich komme ja aus Spiez und habe Geschichten, die man sich dort erzählt oder die ich dort erlebt habe, gebündelt und «verdichtet» und beispielsweise zu einer Figur zusammengebastelt. Ich habe auch versucht, etwas einzubauen, was ich in der Schweizer Literatur vermisse, nämlich dialektale Einflüsse. Dieses Spielen mit der eigenen Sprache, das es in der österreichischen Literatur oft gibt, habe ich in der Schweizer Literatur so bisher nicht gefunden. «Aufgrochsen» spielt in der Unterschicht, und ich wollte, dass sich das in der Sprache niederschlägt. Es sollte so klingen, wie wenn jemand versucht, hochdeutsch zu sprechen, es aber nicht ganz schafft. In den grammatischen und syntaktischen Verstössen gegen die Normen des Standarddeutschen spiegelt sich dann auch wieder, dass es halt doch recht kaputte Figuren sind, die meinen Roman bevölkern. Freilich wirken diese Verstösse auch gerade in beklemmenden Szenen nicht selten unfreiwillig oder sogar befreiend komisch, wodurch die eigene Sprache und das eigene Sprechen auch als mögliche Auswege aus dem Unglück erscheinen. 

Wolltest du also gezielt Schweizer Literatur machen und verstehst dich als Schweizer Autor?

 Es war nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung, Schweizer Literatur zu schreiben. Ob es diese nationalen Literaturen wirklich gibt, ist eh die Frage. Das Dialektale hat sich mehr aus dem Stoff ergeben. Man merkt dem Text zwar sicher an, dass er aus einem bestimmten geographischen Raum stammt, aber von der Thematik her könnte die Geschichte zum Beispiel auch in Norddeutschland spielen. Die Sprache macht den Roman sicher ein Stück weit zur Provinzliteratur, das Thema jedoch nicht. 

Seit dem Abschluss deines Germanistikstudiums arbeitest du an der Uni Bern als Literaturwissenschaftler. Siehst du es als Vorteil für dein Schreiben, dass du dich als Literaturwissenschaftler mit Literatur auseinandergesetzt hast, oder ist es eher ein Nachteil? 

Zeitlich ist es momentan sicher ein Hindernis, da ich völlig ausgebucht bin durch die Uni. Germanistik studiert habe ich, weil mich Literatur interessiert, das Manuskript zu «Aufgrochsen» habe ich aber zu einer Zeit geschrieben, als ich - vorübergehend - kaum noch etwas an der Uni machte und mir sogar überlegte, das ganze Studium zu schmeissen. Ob es ein Vorteil oder ein Nachteil ist? Man kann wahrscheinlich beides behaupten. Wenn man sieht, wie viele Möglichkeiten es gibt, einen Text auseinander zu nehmen, dann kann einen das beim eigenen Schreiben wohl durchaus hemmen, es kann aber auch gerade inspirierend wirken. Mehr als im deutschen ist es ja im angelsächsischen Sprachraum verbreitet, sowohl Literatur als auch Literaturwissenschaft zu machen. Mich interessieren auf jeden Fall beide Seiten, und ich kann mir auch vorstellen, beides zu machen. 

Das heißt aber, es wird nicht bei einem Roman von dir bleiben... 

Nein, die Idee ist schon, dass ich weiterhin schreibe, ich habe auch schon wieder etwas Neues angefangen. 

Kam deine Leidenschaft fürs Schreiben während dem Studium oder wolltest du ein Buch schreiben, seit du laufen kannst? 

Nein, nicht seit ich laufen kann. Ich wollte früher immer Rennfahrer werden; als Zehnjähriger war ich ein grosser Formel-1-Fan. Ende Sekundarschule fand ich dann erstmals, Schriftsteller zu werden wäre noch interessant. Das war eine ganz naive Überlegung; ich stellte mir vor, man könne da den ganzen Tag über an den eigenen Problemen herumkauen und bekäme auch noch Geld dafür. Bedeutende literarische Texte hatte ich bis dahin aber noch kaum gelesen. Das erste, was mich dann ausserordentlich beeindruckt hat, waren die Gedichte Paul Celans, auf die ich im Gymnasium gestossen bin. Ich habe dann auch gleich versucht, solche Gedichte zu schreiben - leider blieben die von Celan aber immer besser, und so nahm meine «lyrische Phase» rasch wieder ein Ende. Meine erste gute Kurzgeschichte schrieb ich im Sommer 1998. Ich hatte zu einer Reise in die USA aufbrechen wollen, lag dann aber einen Monat mit Pfeiffer'schem Drüsenfieber zu Hause im Bett. Ich nutzte die Zeit, um nach einem angemessenen Ausdruck für einen Stoff zu suchen, der mir schon länger auf der Leber lag - mir nahestehende Menschen, die drogensüchtig und psychisch krank geworden waren. Das Resultat war eine Kurzgeschichte, in der ich erstmals - und noch recht zurückhaltend - dialektale Elemente verwendete, und der erste literarische Text überhaupt, mit dem ich einigermassen zufrieden war. Von da an schrieb ich kontinuierlich, einige weitere Kurzgeschichten und den Roman, und jetzt habe ich neue Sachen, an denen ich dran bin. 

Kommen wir auf den Roman zu sprechen. Der Titel ist «Aufgrochsen». Was heisst das? 

«Grochsen» ist ein berndeutsches Wort, das auch Friedrich Glauser gebrauchte und sogar erklärt hat. Er beschreibt es als eine Mischung aus Seufzen, Fluchen und Spucken. Der Roman handelt von Underdogs und erzählt eine Geschichte, die normalerweise nicht überliefert würde, wenn ich sie nicht erzählt hätte. Es geht um gesellschaftliche Missstände; Figuren, die leicht behindert sind, werden zum Beispiel von den gesellschaftlichen Autoritäten nach Strich und Faden verarscht. «Aufgrochsen» ist zu verstehen als eine Stimme, welche diese Geschichte erzählt, aber eben auf eine «grochsende» Art und Weise, in einer rohen, grammatikalisch falschen Sprache. 

Du hast es schon angetönt, im Roman geht es einerseits um gesellschaftliche Missstände, andererseits ist er enorm lustig. Siehst du ihn als Satire oder Gesellschaftskritik? Ist er ernst oder lustig? 

Weder das eine noch das andere. Ich habe versucht, auf dem Grat zu bleiben, wo man nicht weiss, ob man lachen, oder ob einem das Lachen im Hals stecken bleiben sollte. Es ist sicher stellenweise eine Satire, aber als Ganzes geht es doch über eine Satire hinaus. Es ist schon sehr zugespitzt, aber gerade dadurch hat es Wahrheit. 

Wem würdest du das Buch empfehlen? Oder wem nicht? 

Ich würde es niemandem nicht empfehlen. Ich hoffe, es spricht viele Leser an, Literaturwissenschaftlerinnen einerseits, aber auch Hausmänner, alle, die gerne eine Geschichte mitten aus dem Leben mit Witz und Herzschmerz lesen. In der Musik haben berndeutsche Songs ja mittlerweile selbstverständlich auch in der Hitparade Platz, berndeutsche Literatur wird meines Wissens aber nicht ebenso breit akzeptiert. Es herrschen rein berndeutsche «Gschichtli» vor, die zwar von Dialektliebhaberinnen und Dialektliebhabern gelesen werden, aber nicht vom breiten Publikum. Ich könnte mir daher schon vorstellen, dass ein Text wie «Aufgrochsen» bei den Leuten ankommt, ein Text, der die Lust am Dialekt weckt, aber doch nicht so schwer zu lesen ist wie ein reiner Dialekttext. 
Danke für das Gespräch!

Bücher

Dies und Das

Luckas Hunziker über Roland Reichens «Aufgrochsen»

In seinem Erstlingswerk «Aufgrochsen» erzählt der Berner Oberländer Roland Reichen die Geschichte einer alles andere als schrecklich netten Familie. Der Roman überzeugt durch seinen provokativen Humor und die ungewöhnliche, originelle Sprache. Ein gelungener Start in die Schweizer Literatur. 

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