Ein Gespräch mit Daniel Goetsch über X
Über Vorstadtjugend, eine Reise an «Matrix» vorbei und den Schriftsteller als Atmosphärenzauberer.
R.B. 1999 erschien dein Debütroman «Aspartam». Eine eigenwillige, ungestüme und zärtlich erzählte Geschichte, die vom Lebensgefühl einer urbanen Jugend Mitte der Neunzigerjahre handelt. Du tauchtest bald als oft einziger junger Schweizer in den wichtigen neuen Anthologien auf, die z.B. bei Rowohlt oder Ullstein erschienen sind.
D.G. Deutschland suchte in den Neunzigerjahren in verschiedener Hinsicht eine neue Geschichte, neue Geschichten. Autoren wie etwa Christian Kracht oder Tim Staffel meldeten sich erstmals zu Wort. Ich schien da für viele - obwohl aus der Schweiz stammend, wie übrigens auch Kracht - genau hineinzupassen.
R.B. Du wurdest zum Ingeborg-Bachmann-Wettlesen nach Klagenfurt eingeladen, nahmst am Dramenprozessor teil, einem Förderprogramm für junge Dramatiker. Dein Stück «Blocker» wurde in der Gessnerallee gelesen, dein Monolog «Mir» am Schauspielhaus in Zürich aufgeführt. Eine ungewöhnliche Entwicklung.
D.G. Die Kontakte zum Theater verdanke ich auch «Aspartam». Andererseits bin ich ganz bewusst ans Theater herangetreten. Ich wollte weg vom Schreibtisch, hin zu den scheinbar so fröhlichen Menschen auf der Bühne. Nach und nach habe ich eine andere Form des Schreibens entdeckt. Ein Schreiben, das von der direkten Auseinandersetzung lebt.
R.B. Deine Theaterstücke haben dir insgesamt mehr Erfolg beschert als «Aspartam». Mit «Ammen» hast du den Autorenpreis in Heidelberg gewonnen und für «Weisse Gesichter» einen Werkbeitrag der SSA bekommen. Weshalb jetzt «X» - ein Roman?
D.G. Ich wollte diesen Roman lesen, und er war noch nicht geschrieben. «X» beschreibt das Hineinwachsen einer Vorstadtjugend – Agglomeration heisst das in der Schweiz – in unsere Gesellschaft. Die Schweiz ist mittlerweile eine einzige Vorstadt und ein grosser Teil der Kids leben zwischen Blocksiedlung und Autobahn, zwischen Phantasien im Klassenzimmer, Frust in der samstäglichen Disko und Trost im Multiplexkino. «X» geht den Ängsten und Sehnsüchten nach, die in einer solchen Umgebung wie Akne spriessen. Die Traumfrau, der Intimfeind, der Pausenplatz als Ort des Aufbruchs, solche Sachen. Ich habe dafür eine Sprache und Bilder gesucht. Hätte ich diese wo auch immer in der deutschsprachigen, angelsächsischen oder französischen Literatur gefunden, ich hätte «X» nicht geschrieben.
R.B. Du bist Schweizer ...
D.G. ... und Franzose. Von der Staatsbürgerschaft her. Ich habe bald gemerkt, dass für mich die Schweiz zur Identitätsbildung nicht taugt. Ich denke, Identität entsteht aus Erfahrungen und nicht aus Mythen. Insofern ist mein Standpunkt in erster Linie ein existentialistischer (grinst).
R.B. «X» ist auch ein Liebesroman. «X» gibt ständig vor, ein Thriller zu sein. Welche Geschichte erzählt «X»?
D.G. «X» handelt von einem namenlosen jungen Mann, der nach einem Nervenzusammenbruch in sein Leben zurückkehrt und nichts mehr so vorfindet, wie er es im Kopf hatte. Lea, die er seit der Schulzeit liebt, ist verschwunden. Luk, sein bester Freund, hat das Studium geschmissen und verkauft ein nicht zugelassenes Medikament. Briefbomben werden verschickt. Auf der Suche nach Lea freundet er sich mit Abziehbilderfiguren an, steht ratlos in Fitness-Centern und Autobahnraststätten herum und bemerkt zu spät, dass er immer tiefer in die Fänge eines zynischen Systems gerät.
R.B. Eine Kritikerin nannte dich einen «Atmosphärenzauberer». Du scheinst mit leichter Hand Alltagsszenen in Sprache zu zoomen, heimliche Gefühle in knappen Sätzen präzis zu illustrieren. Das sind Stilmittel, deren sich vor allem der Film bedient.
D.G. Die Wirklichkeit so zu beschreiben, wie sie mir erscheint, und nicht so, wie sie zu sein vorgibt – nun, meine Reise führte mich durch die Werke von Baudelaire, Kafka oder DeLillo, und eben auch in die Filme von Tarkowskji, Antonioni oder Lynch. Verzaubert von der Magie der Momente, da sich im Alltäglichen ein Abgrund auftut, da die Schnittstelle zwischen dem eigenen Unbewussten und den Anforderungen einer modernen kapitalistischen Gesellschaft spürbar wird, der Augenblicke also, da die Wunschmaschine ins Stocken gerät.
R.B. Misstrauen und Ängste prägen das Befinden deiner Protagonisten. In «X» spielt ein Medikament namens Paxil eine Rolle. Es hilft Ängste abzubauen.
D.G. Paxil wurde in den USA entwickelt und dort schon bald als psychoaktives Medikament zugelassen. Die entsprechende Krankheit dazu musste – wie z.B. auch beim inzwischen verbreiteten Ritalin – erst erfunden werden. Sie heisst «Schüchternheit» oder, im Fachjargon, «Sozialphobie». Vor zwei Jahren wurden in der Schweiz Testpersonen gesucht, die sich an einer Studie für ein Mittel gegen Sozialphobie beteiligen. Natürlich habe ich mich beworben. Ich weiss nicht, ob die Studie jemals durchgeführt wurde. Ich vermute, dass Paxil bei uns schon bald auf dem Markt sein wird.
R.B. Wie wahr ist die Geschichte von «X»?
D.G. 1993 wurde ein Medizinstudent in Zürich ermordet. Der Fall ging als Bodybuilder-Mord durch die Medien und gab Einblick in die Welt des illegalen Anabolikahandels. Ein Jura-Student und ein mit ihm befreundeter Lebenskünstler wollten in dem Geschäft mitmischen. Es kam zu Streitigkeiten, die in einen bestialischen Mord mündeten. Sowohl der Jura-Student als auch der Lebenskünstler wurden zu Höchststrafen verurteilt. Welcher der beiden den Mord wirklich ausgeführt hat, konnte im Verlauf des Prozesses nicht geklärt werden. Wie sich herausstellte, hatten die beiden bei der Schulabschlussprüfung schon einmal ihre Identitäten ausgetauscht. Hier wird etwas diffus, von dem wir annehmen, es sei klar. Genau so, wie die Vorstadtbilder des Künstlerpaares Fischli und Weiss eine unbestechliche Klarheit suggerieren.
R.B. Das ist die Realität. Aber in «X» bricht immer wieder Symbolisches ein. Bezaubernde Motive, wie etwa die Amsel, die jeweils aus dem Nichts auftaucht, ein weisses Schwein, ein Kehrichtverbrennungsexperte...
D.G. Symbole verbinden die Wirklichkeit mit der Gegenwelt, wohin letztlich jede Sehnsucht zielt. Eine Leserin, ein Leser soll durch «X» hindurchreisen – wo einer sich darin aufhält, sei ihm freigestellt. Die Reise kann an Hesses «Steppenwolf», an Gedichten von Georg Heym, an dem Film «Matrix» oder an ägyptischer Mythologie vorbeiführen. Es kann eine lohnenswerte Reise sein, und ich möchte vor allem ein guter Reiseleiter sein.
R.B. Schon bei «Aspartam» und noch viel mehr bei «X» fällt auf, dass Ironie und Zynismus nicht dein Ding sind. Eher schon eine überraschende Prise Humor.
D.G. «Irony is over», verkündeten kürzlich einige Feuilletons. Der junge Mann in «X» bewegt sich in einer Gesellschaft, die Anzeichen von Autismus und Borderline-Störung aufweist. Beide Krankheitsbilder zeichnen sich dadurch aus, dass die Betroffenen keinen Sinn für Ironie haben. Sie können sich nicht von aussen betrachten. Sie können weder sich noch andere verorten. Daher könnte alles um sie herum auch nur Einbildung sein. Es ist nicht einfach, die Absichten eines Gegenübers zu erkennen. Gefragt ist ständige Interpretationsarbeit. Ein Blick, ein Wort, ein Lächeln. Jedes Zeichen verbirgt zugleich ein anderes. Wir können gar nicht nicht lügen. Trotzdem bleiben wohl ein, zwei Wahrheiten. Sex oder Tod. Daran glaubt zumindest Woody Allen.
R.B. Danke für das Gespräch.