«Ein stilles, einprägsames, poetisches, beunruhigendes Buch»

Was für eine wunderbare Besprechung in «Der Bund» vom 25.6.2005 - geschrieben von Roland Maurer.
Mit «Organza» ist der Schweizerin Erica Engeler ein von südamerika-nischer Atmosphäre geprägter Roman gelungen, in dem sich die Schicksale einer Mutter und ihrer Tochter gegenseitig spiegeln.

Das wirkliche Leben findet nicht in der Gegenwart statt, sondern in der Verarbeitung von Erinnerungen. Davon berichten viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller. So auch Erica Engeler, die heute in St. Gallen lebt, jedoch 1949 im argentinischen Ruiz de Montoya geboren wurde und aufwuchs. Die Autorin von Prosa und Lyrik machte bereits vor einem Jahr mit der Erzählung «Die Überfahrt» Kindheitserinnerungen an eine Schiffsreise von Europa nach Südamerika zum Thema. Und in ihrem unlängst erschienenen Roman «Organza» geht es wiederum um Erinnerungen. Erinnerungen zweier Frauen, einer Mutter und ihrer Tochter Olga, die vom Durst nach Leben erzählen. 
Die Mutter ist nach vierundsechzig Jahren in Argentinien wieder zurück in der Schweiz: im Rollstuhl, im Altersheim. Die Tochter wollte das so, die Mutter wäre 
lieber drüben geblieben. Denn dorthin war sie einmal gezogen, weil sie weg wollte «von diesem Vater, der mein Leben plante, und von der Mutter, die das in Ordnung fand». Und weglaufen hiess damals auswandern. Da kam diese Annonce gerade recht, in der ein solider und gesunder Mann eine Frau suchte «zwecks Heirat und Auswanderung nach Südamerika». 
Ein besseres Leben aufzubauen war die Absicht; Enttäuschungen und Erschöpfung das Resultat: «Nichts haben wir geschafft, nur geschuftet, jahrein, jahraus.» Es kamen Kinder, zu viele, und als sich Olga ankündigte, schrie die verzweifelte Mutter in sich hinein: «Nicht schon wieder, nicht noch einmal.» Darum sticht sie der Anblick von Olga bis heute mitten ins schmerzende Herz; Wut und Schuldgefühle kommen in ihr hoch, wenn sie ihre Tochter sieht. Das prägt Olga. «Olga ist allein auf der Welt.» Sie kennt die vorwurfsvollen Färbungen in der Stimme der Mutter und ahnt, dass sie der Grund sein könnte für all deren Missstimmungen. Zusammenhänge kann sie jedoch nur erahnen. Die Mutter wiederum entdeckt sich in der Tochter, die beiden Frauen werden sich dennoch immer fremd bleiben und das klärende Gespräch verpassen. Jede führte ein Leben für sich, jede hat ihre eigenen Erinnerungen: das harte Leben in Argentinien, die Natur und das Klima dort, die Männer, die Sexualität, die Familie, die Musik. 
Erica Engeler ist mit ihrer Aufzeichnung der Rückbesinnungen zweier Frauen ein stilles, einprägsames, poetisches, unter der ruhigen Oberfläche bewegendes Buch gelungen – fein und knisternd wie Organza, diese Seide, die ihm den Titel gibt. Ganz besonders erstaunlich ist aber die südamerikanische Atmosphäre, die die Schweizerin heraufzubeschwören vermag. Da spürt, riecht und hört man in den Schilderungen der Natur, der existenziellen Bedingungen und des Verhaltens der Menschen, dass Erica Engeler nicht nur selber schreibt, sondern sich durch Übersetzungen lateinamerikanischer Autorinnen und Autoren vertieft in die Lebensweisen im «Cono Sur» hineinbegeben hat. Ein Hauch von Alfonsina Storni durchzieht ihr schönes Buch und verrät in Ton und Themen durchaus Nähe zu dieser grossen, am Ende des 19. Jahrhunderts vom Tessin nach Argentinien ausgewanderten Lyrikerin.